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Alltägliche Bedrohung oder Kalkulierbares Risiko?Behinderung & Gewalt

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Vier wahllos herausgegriffene Meldungen aus Polizeiberichten dieses Jahres in Nord-und Westdeutschland:

  • In Itzehoe hat ein junger Mann versucht, einem Rollstuhlfahrer Geld abzunehmen. Das Vorhaben scheiterte jedoch an der Gegenwehr des Opfers, der ein Tierabwehrspray gegen den Täter einsetzte (21.07.2024).
  • Eine 16-jährige Rollstuhlfahrerin traf sich in Mülheim mit einem Mann, den sie zuvor im Telefonchat kennengelernt hatte. Als sie ihr Smartphone aus der Tasche holte, entriss der Mann ihr das Mobiltelefon und flüchtete (20.06.2014)
  • In einem Wolfsburger Park überfallen zwei Täter einen 52jährigen Rollstuhlfahrer und entreißen ihm sein Portemonnaie (19.04.2014)
  • Im rheinischen Burscheid beschimpfen zwei Jugendliche eine 49jährige querschnittsgelähmte Rollstuhlfahrerin als "Missgeburt", stoßen sie aus dem Rollstuhl und entwenden ihren Rucksack. Die 15 und 16 Jahre jungen Täter werden ermittelt und müssen sich wegen Raubes, Körperverletzung und Beleidigung vor Gericht verantworten (06.04.2014)


Eine Frage stellt sich angesichts solcher Meldungen fast reflexartig:

Ist Gewalt gegen Behinderte alltäglich?


Es wäre nicht nur sachlich falsch, sondern aus Sicht von uns Behinderten auch kontraproduktiv, die Frage mit einem pauschalen "Ja" zu beantworten. Wer sich mit Rollstuhl und Rollator auf die Straßen und Wege unserer Städte begibt, muss natürlich nicht grundsätzlich befürchten, sozusagen zwangsläufig Opfer von Gewalt zu werden. Die Alltagsrealitäten ist vielmehr, dass viel mehr sogenannte nichtbehinderte Menschen uns neutral (also gleichberechtigt) und/oder mit Respekt und hilfsbereit begegnen - zuweilen störend ist meist eher eine gut gemeinte, aber oft unnötige übertriebene "Fürsorge"-Haltung, die zumindest mich zunehmend nervt, weil sie mich - unbeabsichtigt(?), zumindest aber unbewusst entmündigt).

Ich entspreche zwar wohl kaum einem repräsentativen statistischen Model eines gedachten Behinderten; aber für mich selbst kann ich feststelle, dass ich in der Öffentlichkeit während der bisher fünf Jahre meiner optisch erkennbaren Behinderung nicht ein einziges Mal mit Gewalt konfrontiert wurde. Ich vermute, den meisten anderen Behinderten Menschen wird es ähnlich gehen.


   Nicht alltäglich - aber konkret   

Ist die Furcht vor Gewalt gegen uns Behinderte also eher hysterisch oder zumindest stark übertrieben, weil grundlos?

Nein. Die Gewalt gegen behinderte Menschen findet zwar nicht alltäglich statt, und wir müssen auch nicht damit rechnen, dass sich finstere Gestalten auf uns samt Rolli oder Rollstor stürzen, kaum haben wir es gewagt, die Nase vor die Tür zu stecken. Dennoch: Diese Gewalt ist real und konkret; das zeigen nicht nur die ohne großen Rechercheaufwand innerhalb weniger Minuten zusammengetragenen Fälle weiter oben. Ist unsere Angst vor Gewalt eine psychische Überreaktionen- um nicht schon wieder vereinfachend von "Hysterie" zu reden? Auch hier ein ebenso klares Nein. Denn wenn wir "ausnahmsweise" Opfer von Gewalt werden, sind wir dem noch wesentlich hilfloser ausgeliefert als ein sogenanntes nichtbehindertes potentielles Opfer.

   Die Sache mit den Knautschzonen   

Flapsig gesagt: Der Unterschied zwischen einem behinderten und einem nicht behinderten Gewaltopfer lässt sich mit der den unterschiedlichen Sicherheitsausstattungen eines gepanzerten Politiker-Mercedes und einem Motorrollers vergleichen: Knautschzone und Panzerung des Motorroller-Fahrers sind wohl eher vernachlässigbar und tendieren eindeutig gegen Null.

Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal auf mich selbst als authentischen "Zeugen" zurückgreifen: Ich bin nicht gerade zart gebaut mit 1,83 m Länge und stämmiger Figur, und bis zur Diagnose meiner Erkrankung an Morbus Parkinson war ich zwar auch kein "Draufgänger", kannte den Begriff "Angst in und vor der Öffentlichkeit" aber allenfalls vom Hörensagen. Mittlerweile bin ich eher übervorsichtig. Gelegentlich Angstattacken in größeren Menschenansammlungen habe nicht mit Angst vor Gewalt zu tun, sondern sind "normaler" Bestandteil einer meist gut medikamentös eingestellten depressiven Begleiterscheinung.

Aber: Ich habe ganz konkrete und körperlich wie psychisch deutlich spürbare Angst vor bestimmten Menschenansammlungen und Situationen: Ich würde mich heute nicht mehr trauen, einsame Spaziergänge durch unbelebte Straßen, menschenleere Landschaften oder bei Dunkelheit zu Unternehmen. Oder: Ich mache große Umwege, um zum Bespiel Gruppen von angeheiterten, "vorglühenden" Fußballfans an Bus- und Straßenbahnhaltestellen auszuweichen. Übertrieben? Vielleicht. Sogar wahrscheinlich. Eintracht-Fans benutzen Bierflaschen bekanntlich lieber als Trinkgefäße als damit gleich zu zu schlagen ...

Können wir Gewalt gegen uns Behinderte ausschließen? Eigentlich nicht - es sei denn, wir behindern uns selbst radikal an der zu Recht von uns geforderten Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben. Ein weiteres Beispiel macht das deutlich: Der Berliner -Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit Raúl Krauthausen ("Dachdecker wollte ich eh' nicht werden") wurde als Rollstuhlfahrer mehrfach Opfer von Raubüberfällen. Und zwar nicht auf einsamen Ealdwegen. Begehrte Beute bei den Raubzügen auf Krauthausen: Seine Smartphones. Täter: Geschätzt zwischen 10 und 12 Jahre jung . Raúl Krauthausen reagierte in einem Bericht über den ersten Überfall eher sarkastisch:

Er fragte selbstironisch, "ob es nicht auch irgendwie eine Form der Gleichberechtigung ist, wenn sogar vor Behinderten nicht Halt gemacht wird." Aber er schreibt auch: "Auf der anderen Seite weiß ich gerade nicht, ob ich die Sache jetzt einfach so wegstecken kann. Fakt ist, sowas passiert. Die Gefahr lauert überall. Nicht nur im Wedding."

   Tipps für den Alltag - Keine Patentrezepte   

Dem ist nicht viel hinzu zu fügen. "Patentrezepte" gegen Gewalt gibt es nicht, egal ob die Opfer behindert oder nicht behindert sind. Mein Tipp ohne Garantie auf Wirksamkeit:


  • Nicht allein mit Rollator oder Rollstuhl bei Dunkelheit unterwegs sein - und wenn, dann nur auf belebten Straßen.
  • Konfrontationen mit angetrunkenen Menschen aus dem Weg gehen.
  • Bei Belästigungen oder Bedrohungen und Beschimpfungen in öffentlichen Verkehrsmitteln lautstark die Mitfahrenden und Fahrer von Bussen und Bahnen um Hilfe bitten (die können meist von ihrem Platz aus per Kamera das Geschehen einsehen und schnell Hilfe herbeirufen)
  • Durch sicheren Auftreten in der Öffentlichkeit - also nach Möglichkeit aufrecht sitzen (oder am Rollator gehen) und vor allem offenen geraden Blick gar nicht erst den (psychischen) Eindruck einer "leichten Beute auf potentielle Täter erzeugen.
  • Wertgegenstände nicht offen tragen (wenn das möglich ist). In diesem Zusammengang: Die beliebten voluminösen Rucksäcke an der Rückseite von Rollstühlen sind geradezu "Einladungen" an Täter, vor allem an geschickte Taschendiebe.


Jos van Aken


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