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Allen Bemühungen der Initiative "Leidmedien" zum Trotz: Lokalblättchen und Blödzeitungen - und immer wieder auch mal Medien für die sogenannte "Intelligenz" - fesseln doch schon mal gern einen schlechten oder gar-nicht-mehr-Fußgänger in einen Rollstuhl - und das ohne jede Fetisch-Neigung. Ich bin, meiner Natur folgend, zum unfreiwilligen, aber neugierigen Probanden - oder nennen wir mich doch lieber Tester - des bewegten Lebens auf zwei großen und zwei ziemlich kleinen Rädern geworden, vorwärtsgetrieben und gelenkt von meiner Hände und Arme Kraft. Der Grund ist banal: Ich bereite meinen zeitweiligen Umstieg vom Rollator in den Rollstuhl vor. Meine fortschreitende chronische Erkrankung am Morbus Parkinson verlangt das, wenn ich weiter so mobil bleiben will wie bisher.
Also schiebe ich beherzt und tatendurstig die Greifringe des "Rollis" Schwung aufnehmend Richtung Asphalt. Rolli, so nennt man (und auch frau) untereinander das Hilfsmittel zur Mobilisierung von "Nicht-Fußgängern". Ob es zu den Ritualen und der Etikette gehört, bei Begegnungen mit anderen Rollis lässig eine Hand grüßend ein wenig vom Greifring zu heben - aber um Himmels willen nicht wild zu winken, habe ich noch nicht herausbekommen.
Greifringe-Schubsen für Dummies Erste Versuchen meinerseits, mit dieser freundlichen Geste, bekannt von cruisenden Harley Davidsson-Rockern, so etwas wie Solidarität mit anderen, meinen Weg kreuzenden Rolli-Fahrern kundzutun, wurden befremdlicherweise mit blankem Staunen, wenn nicht gar distanzförderndem Ignorieren beantwortet. Wahrscheinlich hab ich den Dreh noch nicht raus - oder ist mir etwa anzusehen, dass ich ein stümperhafter Anfänger in der Kunst des Greifringe-Schubsens bin - von semi-akrobatischen, Hindernisse überwindenden Manövern wie dem "Wheelie", dem Rolli-Ritt auf den zwei Hinterrädern, ganz zu schweigen.
Schon möglich: Immerhin - wir sind ja hier ganz unter uns und da kann ich es ja ruhig zugeben - immerhin ist es ja meine erste Ausfahrt außerhalb des Sanitätshaus-Show- und Shoppingrooms im ergonomisch korrekten Sitzkissen eines Rollstuhls mit Kultcharakter, den ich mir für ein paar Tage zur Probe ausgeliehen habe.
Gerade entdecke ich in der Fußgängerzone kurz vor mir ein Elternpaar, das ein halbwüchsiges Kind in einem Rollstuhl vor sich her schiebt. Die will ich doch schnell mal überholen und mit einem unauffälligen Blick abchecken, was für ein Rolli-Modell denn dieses Blag so fährt (Blag= niederrheinischer Slang meiner Heimat: Bedeutet so etwas wie Göre auf berlinisch).
Die Galeeren-Taktik - bringt auch nicht viel Wie bitte? Wieso hole ich nicht auf, geschweige denn über? Warum wird der Abstand zwischen dem Elter-Kind-Gespann und mir in meinem superleichten, knallhart aufgepumpten sportlichen Rolli (der doch bestimmt nicht ohne Grund das Attribut "Aktiv" verliehen bekam), immer größer - obwohl meine Arme die Greifreifen antreiben wie ein Trommler einst die Galeerensklaven?
Das bisschen Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone, vor einigen Jahren von designbesessenen Stadtplanern zwecks "Atmosphäre" und optischer "Auflockerung" immer wieder mal zwischen glatten Gehwegfliesen-Strecken gepflanzt, kann mich doch nicht bremsen. Mich, einen gestandenen(?) Mann im angeblich besten, na ja: allerbesten Alter ...
Nur wo kommt plötzlich dieser Berg her? Der war doch früher nicht an dieser Stelle. Oder bilde ich mir das ein? Ein kritischer, abschätzender Blick nimmt mir die Illusion: Von "Berg" kann keine Rede sein, allenfalls von einer supersanften winzigen Steigung - eher im Promille- statt im Prozent-Grad-Bereich anzusiedeln. Und dieser kaum sichtbare, aber letztlich nicht zu leugnende "Anstieg" war natürlich immer schon da.
Allerdings: Als Fußgänger hatte ich die winzige Hebung des Wege-Niveaus gar nicht wahrgenommen. Da bewegte ich mich ja noch auf Beinen und Füßen in in alle Richtungen - jetzt, ausschließlich auf meine zugegeben nicht gerade mit Super-Bizepsen ausgestatteten Armen (ist das die korrekte Mehrzahl des athletischen Bizeps?), wird so eine lachhafte Änderung der Topographie, die nicht mal den Namen eines Hügelchens verdient, zu einem fast aussichtslosen Kraftakt.
Im Rolli auf dem Boden der Tatsachen landen Der Rollstuhl, so meine erste und wohl wichtigste Lektion, zwingt mich auf den Boden der Tatsachen. Soll ja nicht schaden, höre ich immer wieder mal, wenn meine zu traumhaften Ausschweifungen verführende Phantasie mich mal wieder abheben läßt - zumindest mental.
Ein Aufwärts ist ein Aufwärts. Da heißt die Maus keinen sprichwörtlichen Faden ab. Und das bremst mich aus - es sei denn, es gelänge mir, mich in einer Zeitmaschine so an die 40 Jährchen jünger zu machen mit entsprechend frischen Leibeskräften. Aber will ich das denn? Nicht wirklich.
Ich bleibe auf meiner Lebensebene, die mich bald an die verflixte 7 vor der Null führt - und das ist auch gut so (um einen immer gut gelaunten, auch nach allerlei gebautem Mist und den unausweichlichen Konsequenzen immer noch grinsenden Politiker der neuen, offensichtlich im Windkanal konstruierten Bauart zu zitieren).
Um auf meine jungfräulichen Erfahrungen mit der Kunst des Rollstuhlfahrens zurück zu kommen: Der Umstieg vom Fußgänger zum Rollstuhlfahrer ist Abenteuer-Urlaub vom Feinsten. Es ist spannend, die doch in vielem ganz andere Welt aus der neuen Perspektive zu entdecken - in jeglicher Hinsicht. Wer von Geburt an mit dieser Fortbewegungsart vertraut ist, wird es vielleicht gar nicht so überdeutlich bemerken wie ich gerade.
Ich war ja bis vor wenigen Tagen - trotz altersgerechter Schrumpfung um einige Zentimeter, gewöhnt daran, Menschen, Stadt- und Naturlandschaften aus einer Höhe von rund 1,85 Metern und mehr zu erleben. Die meisten von uns werden sich vielleicht daran erinnern, dass zum Beispiel Häuser, Kirch- und andere Türme uns in der Kindheit riesig groß vorkamen, bevor sie in unseren Erwachsenen-Augen scheinbar aufs "normale" Maß schrumpften. Ich erlebe im Rolli das Gegenteil, will sagen: Was die Wahrnehmung der Welt um mich her angeht, werde ich wieder zum Kind. Alles ist fremd - und scheinbar plötzlich viel größer als ich es noch gestern sah.
Mit Gulliver auf die Insel Liliput Ein literarischer Vergleich sei gestattet (auch wenn er heutzutage nicht gerade politisch korrekt klingt). Irgendwie bin ich in Jonathan Swifts satirischem Roman über Gullivers Reisen gelandet; nur die Reihenfolge der Stationen ist ein wenig durcheinander geraten. Anders als der Titel-Held des Romans, jener Dr. Lemuel Gulliver, war ich zunächst offensichtlich in Brobdingnag, jenem Land der Riesen mit seiner Hauptstadt Lorbrulgrud unterwegs bevor ich jetzt auf der sagenhaften Insel Liliput gelandet bin.
Ich erlebe diese Abenteuer allerdings nicht als der schiffsbrüchige größenmäßige "Normalo" Lemuel Gulliver, sondern als Ureinwohner der sagenhaften Reise-Stationen des von Swift ersonnenen Schiffsarztes Gulliver. Erst war ich wohl so eine Art Riese, und jetzt verwandle ich mich - zumindest "on the road" zum kleinwüchsigen Bürger der Insel Liliput. Nicht nur als lesewütiges Kind habe ich von diesen Orten und seltsamen Wesen geträumt - und jetzt werden sie ein wenig wahr und Realität.
Bedauernswert? Wohl kaum. Und gefesselt von den Winzwesen auf Liliput wie der - für sie und ihre Wirklichkeit riesige Gulliver - werde ich auch nicht.
Die Entfesselung funktioniert Im Gegenteil. Das, was Behinderten-Aktivisten wie Raúl Krauthausen so anschaulich beschreiben, ist genau so wie der große Mann in dem kleinen Körper es beschreibt: Ein Rollstuhl "fesselt" nicht, er ent-fesselt.
Wie das, werden gute alte Bekannte, Kollegen und, Freunde mich jetzt womöglich fragen? Früher konntest du doch auf deinen reichlich lang geratenen Beinen hin- und her rennen, wie es dir gerade in den Sinn kam - und so wie wir dich kennen gelernt haben damals, kanntest du doch eigentlich nur zwei Aggregat-Zustände: Entweder bist du im Turbo-Gang durch die Gegend geflitzt und wir kamen gar nicht mit oder du hast dich zwischendurch mal hingefläzt und nichts getan. Und jetzt?
Und jetzt kann ich genau das tun. Wieder tun. Gefesselt, wenn wir schon das dramatische Wort ins Spiel bringen wollen, war ich durchaus - zwischendurch. Als bedingt durch meine Krankheit, den besagten Parkinson, das Gehen auf zwei Beinen (vom Hüpfen auf einem Bein mal ganz abgesehen) immer schwieriger wurde - auch an meinem treuen Begleiter, dem Rollator. Gefesselt, weil - nicht ganz typisch für das an sich langsamer fortschreitende Zipperlein - relativ früh nach wenigen Jahren die Kräfte nachließen. Fast ganz ans Haus gefesselt kam ich mir dann vor, als ich es mit Unterstützung des praktischen Gehwägelchens allenfalls noch zur Bushaltestelle fast vor der Haustür schaffte und auch am Ziel dann nach nur wenigen Metern mehr Sitzpausen brauchte als wieder ein winziges Stückchen vorwärts zu kommen.
Von diesen "Fesseln" befreit mich der Rollstuhl. Es macht nicht nur keinen Sinn, meine neu zu entdeckende und zu erlernende Fortbewegungsart auf vier Rädern mit meinen Fußgänger-Jahren zu vergleichen; das ohne Böses zu wollen unterstellte Ergebnis eines solchen Vergleichs stimmt vorn und hinten nicht. Es gibt nämlich grundsätzlich nichts, was ich mit dem Rollstuhl nicht erreichen könnte - ausgenommen einige, na ja: immer noch viel zu viele, künstliche Hindernisse, die mir unnötig den Weg versperren oder erschweren. Die berüchtigten und zu Recht viel zitierten Barrieren eben.
Aber die gab es doch auch schon in den Fußgänger-Zeiten. Ich habe sie, wie die meisten nur nicht mehr wahrgenommen oder habe sie erfolgreich mental ausgeblendet. So ganz barrierefrei ist auch das Leben zu Fuß nicht. Der Rollstuhl ist, ganz sachlich gesehen, ebenso ein Hilfsmittel wie zum Beispiel der Hochhaus-Lift oder die Linie 21 durch die Großstadt.
Learning bei rolling Aber - und das ist Lektion zwei bei meinen ersten Rollversuchen durch die große weite Welt der Städte, nachdem ich (sie erinnern sich an Lektion eins?) auf dem nicht immer weich gepolsterten Boden der Tatsachen aufgeschlagen bin: Auch wenn kein Führerschein verlangt wird, will das unfallfreie, sichere und stressfreie Kutschieren mit dem Rolli gelernt sein - immerhin müssen (noch) keine sauteuren Fahrstunden bezahlt oder Prüfungen abgelegt werden.
Im Sanitätshaus ist ja alles total easy: Greifräder schubsen und rollen lassen über den super-ebenen glatten Boden des Showrooms. Kurven? No Problem, Sir. Dazu noch ein paar gute und - wie sich bald zeigen wird (über)lebenswichtige Tipps des Rollstuhl-Beraters:
- richtig Sitzen,
- Popo nach hinten und
- eher ein wenig vorgebeugt als extrem nach hinten gelehnt,
- vorerst keine Wheelies,
- nicht ruckartig anfahren - weil sonst doch (unfreiwilliger) Wheelie
Für die Probefahrten habe ich mir einen Starrrahmen-Rollstuhl Küschall K 4, einen leichten und gleichzeitig stabilen Klassiker, grob einrichten lassen. Für den Dauergebrauch wäre natürlich noch ein umfangreiches Feintuning durch den Fachmann sowie Austausch verschiedener Elemente nötig. Dazu aber später mehr.
Die erste mögliche Barriere auf dem Weg in eine entfesselte Mobilität jenseits des aufrechten Gangs: Kann ich so ein alles in allem zwar elegant-schnittig, aber doch nicht wirklich zierliches Gerät in einem Kleinwagen wie unserem VW-Polo unterbringen? Keinerlei Grund zur Panik: Meine Bedenken, dass sich der Starrrahmen im Gegensatz zu einem zunächst angepeilten Faltrahmen (z.B. dem Küschall Compact) als übermäßig sperrig herausstellen und damit den Mobilitätsvorteil schmälern würde, lösten sich in ein paar erstaunlich kleine Einzelteile und Wohlgefallen auf:
- Reifen mit einem leichten Griff abziehen,
- Sitzkissen rausnehmen,
- Rückenteil mit dem Zug an einer Kordel auf die Sitzfläche klappen
- ab damit in den Kofferraum oder auf die hintere Sitzbank.
So einfach ist das - und dauert mit einiger Routine nicht mal eine Minute. Natürlich bin ich dabei eindeutig im Vorteil, weil ich problemlos noch stehen und einige Schritte gehen kann. (Fairnesshalber weise ich darauf hin, dass selbstverständlich auch andere Rollstuhlhersteller Modelle anbieten, die ähnlich konstruiert sind).
Auf den ersten "Ausritt" unter Alltagsbedingungen habe ich mich ehrlich gesagt ein wenig gefreut wie als kleiner Bub auf das erste eigene (natürlich knallrote) Fahrrad und die "unendliche Freiheit, in die große weite Welt hinaus zu strampeln, was die kleinen Radler-Waden hergaben".
Darf ich mich darauf freuen, mich in einen ROLLSTUHL zu setzen und mich durch Bewegen von Greifringen vorwärts zu bewegen (rückwärts übrigens auch)?
Ja, ich darf.
Wer zum Beispiel nach einem Unfall mehrere Monate mehr oder weniger bettlägerig war, bis die Knochen wieder hielten, und es das erste mal in den Klinik-Park hinaus ging (möglicherweise auch in einem Rollstuhl), wird mich auch als nicht behinderter Mensch wahrscheinlich verstehen.
Bobbycar.Feeling pur Ich sag nur: Entfesselung.
Und entfesselt, das waren die ersten zweihundert Meter in meinem Kiez, die Straße hinunter - nicht zuletzt, weil es tatsächlich ein wenig "bergab" ging. Ein leichter Schubs an den Greifringen, und schon ging's los, fast wie von selbst. Leichtes Aussteuern, um die gerade Linie zu halten und an der Straßenkreuzung unten sanft abbremsen. Bobbycar-Feeling pur.
So hätte es stundenlang weiter gehen, nein rollen können ...
Aber auch der erste Ausflug im Rolli ist nun mal weder Ponyhof, noch Wunschkonzert. Nach dem sanften Abwärtsrollen über das leichte Gefälle war nämlich "learning bei rolling" angesagt. Ich musste zum Überqueren der kleinen Nebenstraße runter vom Gehweg (kein Problem, der Bordstein war vorbildlich abgesenkt) und auf anderen Straßenseite wieder rauf auf den Gehweg.
Nur: Da kam ich nicht rauf. Ich fürchte, ich wirkte in diesem Moment nicht übermäßig intelligent - der Rollstuhl wollte und wollte partout nicht auf den Gehweg. Ich saß da in meinem coolen Rolli wie der Ochs vorm Berg.Und dabei hatten die Straßenbauer auch an dieser Stelle ganze Arbeit geleistet und die Bordsteinkanten abgesenkt, damit unter anderem Rolli-Fahrer sicher und glatt von der potentiell gefährlichen Straße auf den sicheren Gehweg gelangen.
Hatten sie aber nicht wirklich. Hier nicht, und an tausenden anderen Stellen in der Stadt ebenfalls nicht, wie ich später betrübt feststellen durfte.
Und heute, beim Korrigieren dieses Textes, erfahre ich beim sich immer lohnenden "Blick über den Tellerrand", dass die Nicht auf ein Null-Niveau abgesenkten Bordsteinkanten an vielen Stellen einen guten und (über)lebenswichtigen Grund haben:
Die "Drei-Zentimeter-Tante"
In einschlägigen Gesetzen ist nämlich verankert, dass Bordsteine höchstens auf drei Zentimeter Resthöhe abgesenkt werden dürfen. Warum? Damit blinde Menschen mit dem Langstock "sehen", also spüren können, wo der Gehweg aufhört und die Fahrbahn beginnt. Nachvollziehbar. Die blinde Berliner Behinderten-Aktivistin Kathrin Backhaus outet sich in einem Zeitungsbericht: „Ich bin bekannt als die Drei-Zentimeter-Tante“, grinst sie. Die meisten Bordsteine in ihrer Umgebung seien an den Kreuzungen auf Null Zentimeter abgesenkt. Das könne lebensgefährlich für sehbehinderte Menschen sein, weil der spürbare Übergang zur Straße fehle.
„Also habe ich ein drei Zentimeter großes Holzklötzchen gebastelt“, verrät Kathrin Backhaus. Damit sei sie von Kreuzung zu Kreuzung gelaufen und habe die Höhe der Bordsteine aufgeschrieben. Die Liste schickte sie an das Tiefbauamt. Eine erste Reaktion gibt es: Am Augustaplatz in Berlin sind mittlerweile die Bordsteine auf drei Zentimeter angehoben worden. Nun möchte sie weiterkämpfen, so lange, bis sie keine Angst mehr vor der eigenen Zukunft haben muss.
Möglicherweise sehen die einschlägigen Bestimmungen aber auch eher großrädrige geschobene Kinderwagen oder klobige Elektro-Rollstühle vor, nur eben nicht die ein wenig klein geratenen Vorderräder eines handbetriebenen Aktiv-Rollstuhls. Zumindest scheinen die Stadtplaner und Straßenbauer davon auszugehen, dass solche "Exoten", wie ich offenbar einer bin, die es sich stur in den Kopf gesetzt haben, sich ohne artistisches Talent autark in der Stadt zu bewegen, gefälligst dieses oder jenes "Kunststückchen" einzustudieren haben, bevor sie es wagen, tollkühn (oder voll Gottvertrauen), eine Straße überqueren.
Der Wheelie-Tanz auf zwei Rädern
Mittlerweile weiß ich, dass ich gut daran tue, mir an den Rollstuhl, den ich hoffentlich bald mein Eigen nenne deutlich größer dimensionierte Vorderräder montieren zu lassen. Die Alternative wären die bereits erwähnten "Kunststückchen", in diesem Fall der berühmt-berüchtigte "Wheelie". Motorrad-Enthusiasten bekommen feuchte Augen bei diesem Wort.
Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sozusagen zur Hälfte abzuheben - im Klartext: Durch einen besonderen Schwung das Vorderrad (beim Rollstuhl die Vorderräder) bei der Vorwärtsfahrt nach oben zu schwingen und dann, geschickt die Balance haltend, auf dem Mottorrad-Hinterrad (den großen Hinterrädern des Rollstuhls) weiter zu fahren. Mit diesem Trick lassen sich erstaunlich hohe Stufen überwinden - eine nicht korrekt abgeflachte Bordsteinkanten lässt Wheelie-Könner nur müde lächeln.
Oft reicht es, einen nur angedeuteten Wheelie zu fahren, um ein solches kleines Hindernis zu bewältigen: Mit gekonntem Schwung die Vorderräder nur wenige Zentimeter hoch bringen, das reicht. Aber all das will erst mal gelernt sein. Bei meiner ersten Fahrt musste ich noch brav immer wieder aufstehen, um an kniffligen Stellen weiter zu kommen. Richtig stolz war ich, als ich es bald schaffte, mit ordentlich Schwung kleine, mit grobem Kies gefüllte Flächen einer Baustelle hinter mir zu lassen, ohne mich ausbremsen zu lassen.
Ach so: Wussten Sie, dass logischerweise Gehwege samt und sonders nicht etwa einfach flach sind, sondern immer ein wenig geneigt zur Straßenseite (damit auch ein Platzregen ablaufen kann) und uns Aktiv-Rollstuhlfahrer ständig zwingen, gegenzusteuern? Mir war das als Fußgänger und Radfahrer nie aufgefallen, ebenso wenig wie die unzähligen Mini-Hügel und -täler auch in einer Stadt im Flachland.
Im Rollstuhl genieße ich die natürliche Berg- und Talbahn - nun ja: Das mühselige Armkraft raubende Hochstemmen jede auch noch so winzige Steigung hinauf ist alles andere als ein Vergnügen. Und weil meine Kondition zunehmend infolge meiner chronischen Krankheit nachlässt und meine Gelenke, vor allem die Handgelenke, auch nicht mehr das sind, was sie in gesunden Tagen einmal waren, sehe ich voller Zuversicht der (teilweisen) Kassen-Kostenübernahme eines "Restkraftverstärkers" entgegen, der mich - unauffällig an die Achse des Rollis befestigt - schmerzfrei und gesund auch Steigungen hinaufbefördern hilft.
Erste Bilanz der ersten wirklichen Begegnung mit dem Rolli: nicht so einfach wie ich es mir vorgestellt hatte - aber ein riesengroßes Stück Freiheit ohne Fesseln.
Jos van Aken